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«Die Stimmung ist so gereizt, dass es die Leute aussprechen»

Anschlagsversuche, Bombendrohungen, Angriffe: Der Krieg im Nahen Osten führt auch in Europa zu Spannungen. Wie Antisemiten und andere Extremisten davon profitieren, erklärt Extremismus-Experte Samuel Althof.

Von Maximilian Haase 25.10.2023
Quelle: Bluewin

Zwei Wochen nach dem Angriff der Hamas auf Israel erhitzt der Krieg im Nahen Osten auch die Gemüter in Europa. Bombendrohungen, Anschläge auf Synagogen und Attacken auf Juden und Muslime machen seither regelmässig Schlagzeilen. Woher rührt die mangelnde Empathie füreinander – und kann es wieder einen Dialog geben?

Samuel Althof von der Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention (Fexx) begibt sich im Interview auf die Suche nach Antworten auf schwierige Fragen.

Neben Demonstrationen gibt es derzeit auch immer wieder Bombendrohungen. Welche Rolle spielen dabei der Angriff der Hamas auf Israel und der Krieg im Nahen Osten?

Althof: Sicher eine grosse Rolle, wie es derzeit ausschaut. Aber eigentlich müssten Sie das die Polizei fragen. Denn das setzt voraus, dass man weiss, von wem die Bombendrohungen kamen. Das ist nicht wirklich klar. Ich spekuliere nicht gern im Raum herum, denn das könnte nur noch mehr polarisieren.

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Vielleicht allgemeiner gefragt: Ist nach dem 7. Oktober und der Reaktion Israels auch hierzulande ein Anstieg des Extremismus zu befürchten und zu beobachten?

In so einer Situation spült es immer diejenigen Kräfte nach oben, die schon da waren. Ich würde nicht davon ausgehen, dass es mehr sind. Sondern dass die, die man bislang nicht gesehen hat, sichtbarer werden. Es gibt die jüdische Perspektive, die aktuell natürlich sehr von Angst und Schmerz geprägt ist. Und aus palästinensischer Perspektive ist es ähnlich. Hat man das vor Augen, dann kann man verstehen, dass sich gerade auch extreme Positionen entwickeln können. Im Prinzip muss man mit allem rechnen.
Hat sich die Stimmung in der Schweiz und in Europa geändert?

Der Antisemitismus kommt wieder mehr an die Oberfläche. Blickt man auf die Coronazeit zurück, sieht man, dass das an vielen Orten schon da war. Jetzt ist die Stimmung so gereizt, dass die Leute es aussprechen und auf die Strasse gehen. Aktuell werden diese Dinge klar sichtbar. Aber ich würde nicht sagen, dass es zugenommen hat. Es ist nicht mehr, aber sehr viel deutlicher – und darum auch gefährlicher.
Trauen sich Antisemiten jetzt mehr?

Das ist eine individuelle Frage, eine Frage der kriminellen Energie. Solange wir keine organisierten Gruppen sehen, die auf jüdische oder israelische Institutionen losgehen, kann man mit Blick auf die ausgeübte Gewalt noch immer sagen, es ist punktuell. Wenn der Rabbiner hier durch die Stadt spaziert, ist es für ihn wahrscheinlich nicht so gemütlich. Aber: Der einzige Pogrom, der jetzt passiert ist, ist der in Israel.
Woher kommen die extremen Positionen in der aktuellen Situation?

Ursache dafür ist ein Mix aus verschiedenen Dingen: Einerseits findet Kriegspropaganda statt. Andererseits sehen wir schon immer existente Ideologien. Es gibt hier zudem linksextreme und rechtsextreme Kräfte. Da sind beispielsweise rechte Parteien, die stark pro-israelisch sind – aber die sind es, weil die Israelis ein Problem mit dem radikalen Islam haben. Da gibt es ganz merkwürdige Verschränkungen. Das führt zu undifferenzierter Solidarisierung und fehlender Empathie.
Wie entscheidend ist dieser Empathiemangel?

Auf den Demonstrationen vermisst man aktuell die Empathie für das Leid, das dort generell im Moment passiert. Dabei kann man sowohl mit der israelischen als auch der palästinensischen Bevölkerung zugleich empathisch sein. Dieser Empathiemangel ist für uns alle sehr schädlich, denn er führt zu einer Spaltung. Wir zerreissen uns innerlich – und trennen uns von Handlungsoptionen und Menschen, mit denen wir eigentlich kommunizieren könnten und wollten.
Was ändert sich, wenn ich das Leid der anderen teile – und was, wenn nicht?

Zur Person

Samuel Althof arbeitet in der Extremismusprävention und leitet die Fachstelle Extremismus und Gewaltprävention (Fexx). Er besitzt die schweizerische und die israelische Staatsbürgerschaft.

Wenn ich mit leidenden Menschen empathisch bin, dann fühle ich Verbundenheit. Das ist zugleich eine Form von Sicherheit, weil ich in Kontakt bleibe. Menschen, die ideologisch geformt sind, verlieren ihre Sicherheit. Wenn keine Empathie herrscht, wird entmenschlicht. Diese Enthumanisierung passiert, wenn man sich in den Ideologien festkrallt. Die Ideologien bieten keine Lösung. Viele Menschen sind gerade beunruhigt – und viele wollen diese Beunruhigung nicht ertragen. Indem sie sich der einen oder anderen Seite zuordnen, versuchen sie sich per Ideologie Sicherheit zu geben. Das passiert, wenn sie sich nicht grundsätzlich mit dem Leid identifizieren. Dabei wäre darüber eine Verständigung möglich. Mit Ideologie schaffen wir dagegen nur Trennungen. Und das macht auf Dauer krank.
Sie sind selbst auch israelischer Staatsbürger. Wie schaffen Sie es in der aktuellen Situation, sich die Empathie für alle Seiten zu erhalten?

Ich habe den Jom-Kippur-Krieg erlebt, war dann zwei Jahre in der Armee und bin desertiert. Schon sehr früh habe ich eine dritte Position eingenommen. Ich lasse mich nicht polarisieren – und nicht entmenschlichen. Weder von der einen noch von der anderen Seite.
Hat sich Ihre Position nach dem 7. Oktober verändert?

Nein. Dass die Hamas abgewehrt werden muss, ist klar. Aber wer in Gaza lebt, ist nicht gleich Hamas. Wir sind verantwortlich, diesen dritten Raum zu ermöglichen und zu behalten.
Wie meinen Sie das?

Damit meine ich eine Entpolarisierung. Momentan sind wir nicht in der Lage, mehr zu machen, als zu trauern. In der Trauer sind wir real, in der Ideologie hingegen grössenwahnsinnig. Die, die nicht direkt involviert sind, müssen diesen Raum hier schaffen. Wir dürfen nicht hier mit dort verwechseln. Das bedeutet nicht, dass wir nicht solidarisch sein können.

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