«Es ist falsch, von Chaotentum zu sprechen. Prügelmiliz
wäre zutreffender»
Woher stammt die Gewaltbereitschaft gegenüber Polizisten? Der
Extremismus-Experte Samuel Althof ordnet im Gespräch mit Michael
von Ledebur die jüngsten linksextremen Gewaltausbrüche
in Zürich ein
Neu Zürcher Zeitung 4. April 2023
Herr Althof, man hat den Eindruck, der Ausbruch linksextremer
Gewalt in Zürich am Wochenende habe alle überrascht –
von der Polizei bis zur Politik. Auch Sie?
Nein. Was passiert ist, entspricht genau dem, was die revolutionäre
Linke immer wieder öffentlich erklärt. In der Diskussion
wird diese Programmatik leider oft übersehen. Man spricht zum
Beispiel gerne von Chaoten. Aber dieser Begriff ist mehr als nur
ungenau. Er führt dazu, dass viele die linksextremistischen
Gruppierungen unterschätzen.
Inwiefern?
Ein Aufmarsch wie jener am Samstag ist sehr genau strukturiert,
bis zu den Gegenständen, mit denen Polizisten attackiert werden.
Ein Transparent beispielsweise ist nicht einfach ein Transparent,
sondern so gefertigt, dass es als Schild gegen Gummischrot dient.
Wer von Chaoten spricht, verharmlost diese strukturierte Gewaltanwendung.
Wir würden auch nicht auf die Idee kommen, von Clan-Chaoten
anstatt Clan-Kriminalität zu sprechen.
Eines der grössten Polizeikorps des Landes war zweimal
innert wenigen Wochen nicht in der Lage, linksextremistischen Gewaltausbrüchen
Einhalt zu gebieten. Wie ist das zu erklären?
Für die Polizei ist die Ausgangslage schwierig. Will sie solche
Ausbrüche verhindern, muss sie stets in einer personellen Übermacht
sein. Man brauchte also eine Polizei, die zu allen Tages- und Nachtzeiten
auf Abruf bereit steht. Das ist schwer zu bewerkstelligen.
Weiss die Polizei überhaupt genug darüber, was innerhalb
der Szene läuft?
Aus Gesprächen mit Vertretern von lokalen und national operativ
tätigen Sicheheitsverantwortlichen weiss ich, dass es für
die Polizei enorm schwierig ist, tragfähige Kontakte in die
Szene zu entwickeln. Das ist bei der rechtsextremen Szene einfacher,
da sprechen die Leute gerne mit Polizisten, vielleicht in der Annahme,
diese überzeugen zu können. Aber wenn man wissen will,
was strukturell in der linksextremen Szene los ist, reicht es, wenn
man deren Verlautbarungen ernst nimmt.
Da geht es um Marxismus, revolutionäre Gewalt, den bösen
Kapitalismus. Alles wie vor 40 Jahren. Hat sich die Szene nicht
entwickelt?
Inhaltlich tatsächlich nicht. Das linksextreme Konzept ist
staatsfeindlich, man träumt vom Umsturz. Dass Gesetze gelten,
die auf demokratischem Weg erarbeitet worden sind, lehnen diese
Leute ab. Sie glauben tatsächlich daran, dass der Staat in
einer Revolution untergeht, wenn sie ihn nur genügend oft herausfordern.
Und dies, nachdem unzählige Gewaltexzesse den Staatsaufbau
nicht verändert haben.
Natürlich
handelt es sich um Realitätsverlust und Grössenwahn. Jede
politische Partei in der Schweiz hat eine Selbsteinschätzung
darüber, was sie bewirken kann. Diese Leute haben das nicht.
Der Generationenwechsel ändert daran nichts, das Denken bleibt
gleich. Und es gibt auch eine Binnenlogik – man könnte
auch von einer Bubble sprechen, in der sich die Leute bewegen und
gegenseitig aufwerten. Das ist durchaus sektenartig: Wenn du dabei
bist, bist du toll, und du bist nicht mehr alleine. Wie bei Sekten
ist ein Ausstieg schwierig.
Wächst
die Szene?
Ich
würde schätzen, dass sie auf mittelhohem Mass stabil ist.
Bei Demonstrationen sind jeweils zwischen 500 und 1000 Personen
aktiv. Der Mobilisierungsgrad ist hoch, zwischen den Städten,
aber auch gesamteuropäisch. Das weiss man aus Polizeikontrollen.
Was
hat sich durch das Internet verändert?
Die
Geschwindigkeit. Es gab kürzlich eine Podiumsdiskussion im
Zentrum Karl der Grosse in Zürich, wo Leute der rechtsextremen
Jungen Tat aufgetreten sind. Noch während die Diskussion lief,
haben Linksextreme sie fotografiert und die Fotos ins Netz gestellt.
Zum Ende der Diskussion stand ein Schlägertrupp bereit. Das
war ein organisierter Überfall. Er zeigt: Es ist falsch, von
Chaotentum zu sprechen. Prügelmiliz wäre zutreffender.
Als
Binsenwahrheit galt lange, dass rechte Gewalt eher gegen Leib und
Leben gerichtet ist, linke Gewalt eher gegen Objekte. Doch gerade
die Gewalt gegen Polizisten spricht eine andere Sprache. Wie funktioniert
linke Gewalt?
Wenn Objekte, etwa eine Bankfiliale, beschädigt werden, wird
gleichzeitig eine revolutionäre Botschaft transportiert. Es
ist eine Art Mikroterrorismus, der auf Aufmerksamkeit zielt. Dieser
Mechanismus wird auf Polizisten übertragen, die man als Repräsentanten
des Systems sieht. Polizistinnen und Polizisten werden enthumanisiert.
Sie werden als Objekte des feindlichen Systems gesehen und bekämpft.
Wenn man 80 Molotowcocktails in einem besetzten Haus bereitstellt,
denkt man nicht daran, was eine Brandwunde einem Menschen zufügen
kann. Oder daran, dass dieser Mensch Angehörige hat.
Als die Junge Tat eine Vorlesestunde von Drag-Queens störte,
war die Entrüstung in der Stadtzürcher Politik gross.
Weshalb stösst eine solche zu verurteilende, aber «symbolische»
Aktion gerade bei rot-grünen Parteien auf so viel mehr Entrüstung
als die reale Gewalt von links?
Ich will nichts verharmlosen, aber die Junge Tat ist eine an sich
bedeutungslose Marke, die von den Medien hochgespielt wird. Solche
kleinen Gruppierungen werden mit der Zeit ausgebremst. Aber die
Parteien nützen die Bühne gerne, um sich gegen Rechtsextreme
zu positionieren. Tatsache ist: Wir haben in der Schweiz kein Pflaster,
auf dem sich Rechtsextremismus strukturell verfangen kann.
Kann man dies so apodiktisch sagen?
Keine
einzige rechtsextreme Bewegung konnte in den letzten Jahren in irgendeiner
Form Fuss fassen. Beim Linksextremismus sieht es anders aus, er
funktioniert strukturell, ist sehr viel besser organisiert und vor
allem sehr viel besser vernetzt.
Und doch ist die Furcht vor dem Rechtsextremismus bei vielen
nach wie vor grösser als jene vor dem Linksextremismus.
Das hat mit den Bildern zu tun, die wir im Kopf haben, von KZ und
Hitlers Schergen. Wenn wir an Linksextremismus denken, entsteht
nichts dergleichen.
Oft heisst es, dass an illegalen Demos die Gewalt nur von einem
kleinen Teil der Teilnehmer ausgehe. Teilen Sie diese Einschätzung?
Diese
Demonstrationen werden oft von Linksextremen regelrecht gekapert.
Sie suchen diese gezielt aus. Von aussen sieht es dann nach einer
von Beginn weg links extremen Demo aus, auch wenn dies nicht den
Tatsachen entspricht. Es erscheint mir deshalb wenig zielführend,
die Veranstalter dieser Demos belangen zu wollen, wie dies nun teilweise
gefordert wird.
Sind linke Politiker mitverantwortlich, wenn sie das «Grundanliegen»,
zum Beispiel einer illegalen Demo gegen Wohnungsnot, für gut
befinden?
Es
ist heikel, wenn sich Politiker in einer akuten Lage so äussern,
denn das kann als Gewalt legitimierend verstanden werden. Ebenso
problematisch sind ultimative Forderungen gegen die «Chaoten»,
denn auch dies bestärkt diese Leute in ihren Ansichten. Allerdings
muss man sagen, dass die Szene relativ immun ist gegenüber
Wertungen von aussen.
Wie lässt sich das Problem lösen?
Für
die Polizei ist wichtig, dass sie die Bedrohung absolut ernst nimmt
und mit allen möglichen Angriffstechniken aus der Szene rechnet.
Die Beteiligten haben starke Gewaltphantasien und versuchen sie
auch umzusetzen. Die Polizei muss sich aber auch mit Fachkräften
vernetzen, die mit Linksextremen in der Prävention arbeiten
und dorthin Vertrauensbeziehungen aufgebaut haben. Vielleicht braucht
es mehr Polizisten auf Abruf, aber sicher nicht mehr demonstrative
Polizeipräsenz. Letztlich muss man damit leben, dass es diese
Form von Gewalt gibt.
Die Lösung von solch grossen strukturellen, gesellschaftlichen
Problemen darf man nicht an die Polizei delegieren oder diese gar
dafür verantwortlich machen. Wir leben mit einer ständigen
Sockelproblematik von links- wie auch rechtsextremer Gewalt. Es
gibt keine Patentlösung. Höchstens einen realistischeren
Umgang damit.
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