Front
An’Nur-Jugendgruppe: Experte glaubt nicht an eine
IS-Zelle
Quelle: Der Landbote, 05. Oktober 2017
WINTERTHUR Samuel Althof bezweifelt, dass es im Umfeld der geschlossenen
An’Nur-Moschee eine IS-Zelle gab, die programmatischen Extremismus
verfolgte. Vielmehr sei die Dynamik einer Jugendgruppe nicht erkannt
worden.
Als «eher zufällige Entwicklung» bezeichnet Extremismusexperte
Samuel Althof die einstige Bildung einer Jugendgruppe der An’Nur-Moschee,
von der sich mehrere Mitglieder radikalisierten und dem Islamischen
Staat (IS) anschlossen. Damit widerspricht Althof der verbreiteten
These, diese Jugendgruppe sei Teil einer wirkungsmächtigen
IS-Zelle gewesen, welche in den letzten Jahren einen strukturellen
und progammatischen Extremismus verfolgt habe. Althof hatte wiederholt
mit einzelnen Jugendlichen und Erwachsenen aus dem Umfeld der An’Nur-Moschee
Kontakt. Er glaubt, dass «die Dynamik dieser Gruppe nicht
rechtzeitig erkannt und später falsch interpretiert wurde».
So hätten sich unter jenen, die sich radikal verhielten und
so-gar in den Jihad reisten oder reisen wollten, keine echten Führungspersönlichkeiten
befunden. Die meisten könne man überdies auch nicht als
ideologische Salafisten bezeichnen.
Noch kein neuer Verein
Althof spricht im Fall der mitunter als extremistisch und gefährlich
eingestuften Jugendgruppe von einem «symptomatischen und eben
nicht programmatischen Salafismus». Wenn man Menschen, die
Anzeichen von Radikalisierung zeigten, nicht von Beginn weg programmati-sches
Handeln unterstelle, könne man ihnen mit präventiven Massnahmen
begegnen und die Gefahr, die von ihnen ausgehe, reduzieren. Dies
sei bei dieser Jugendgruppe vernachlässigt worden.
Nachdem die An’Nur-Moschee Mitte Jahr geschlossen worden war
und sich deren Verein aufgelöst hatte, zeigte sich die Stadt
bereit, die Bildung eines neuen Vereins mit ihren Netzwerken zu
unterstützen. Wie Stadtrat Nicolas Galladé (SP) gestern
auf Anfrage erklärte, sei die Stadt weiterhin daran interessiert,
dass sich auch die Muslime aus dem arabischen und ostafrikanischen
Raum wieder in einem Verein organisieren könnten. Für
entsprechende Beratungshilfe sei das Interkulturelle Forum zuständig.
Seit Juli hat dort gemäss Galladé aber niemand aus dem
Umfeld der An’Nur-Moschee um Unterstützung nachgefragt.
Präventionsmöglichkeiten
Im Interview verrät Althof weiter, wie er selber zu einzelnen
Radikalisierten «durchgedrungen» sei, um zu verhindern,
dass sie zur ernsten Gefahr für die Gesellschaft wurden. mö/maf
SEITE 3
Der
Landbote
– 05. Oktober 2017
Seite: 3
Thema
Radikalisierung
«Die Jugendlichen der An’Nur-Moschee bekamen
Angst voreinander»
ISLAMISMUS Der Basler Extremismusexperte Samuel Althof hatte
mit mehreren Mitgliedern der An’Nur-Jugendgruppe Kontakt.
Er widerspricht dem Bild, das medial von ihnen vermittelt wurde:
Die meisten seien wenig ideologisch, und es habe keine echten Führungspersönlichkeiten
gegeben.
Winterthur gilt als Jihadisten-Hochburg der Schweiz. Aus keiner
anderen Stadt sind so viele Personen nach Syrien oder in den Irak
gereist oder haben es zumindest versucht, schrieb der «Tages-Anzeiger».
Wieso haben sich gerade hier so viele radikalisiert?
Samuel Althof: Grundsätzlich ist jede Radikalisierungsgeschichte
anders. Winterthur ist meines Wissens in der Schweiz aber einzigartig,
weil sich in der An’Nur-Moschee eine Jugendgruppe mit einem
starken Eigenleben bildete. Das ist aber nicht etwa auf die Jugendarbeit
des Vorstands zurückzuführen, sondern war eher eine zufällige
Entwicklung. Als Kitt für den Gruppenzusammenhalt dienten vor
allem Fussball und Gamen, die Religion war nur eines der Identitätsmerkmale.
Die Dynamik dieser Gruppe wurde nicht rechtzeitig erkannt und später
falsch interpretiert, deshalb konnte ein schrecklicher Dominoeffekt
entstehen. Der Erste, der ins Kalifat ging, meldete der Gruppe zurück:
Es ist toll, kommt auch. Danach kippte einer nach dem anderen.
Als Erster ist vermutlich der italienischstämmige Konvertit
S. V. ausgereist, der nach seiner Rückkehr lange in U-Haft
war und nun auf seinen Prozess wartet. Er hat sich selber «Emir»
genannt, in den Medien bekam er den Übernamen «Leitwolf».
Wer ihn Leitwolf nennt, dramatisiert die Geschichte unnötig
und schürt damit Angst. Zudem ist S. V. kein Tier, sondern
ein Mensch, der aufgrund seiner Vorgeschichte gehandelt hat. Dass
Menschen mit Tieren verglichen werden, bedeutet deren Ausschluss
aus dem Menschsein. Das kenne ich bestens von der Nazirhetorik.
Mit dem Begriff Leitwolf war wohl gemeint, dass er in der Winterthurer
Szene eine Führungsposition innehatte.
Es gibt in der Schweiz überhaupt keine echten Führungspersonen.
S. V. hatte schon eine gewisse Relevanz, ist aber sicher keine Leitfigur,
wie es zum Beispiel Ulrike Meinhof bei der Rote-Armee-Fraktion war.
Eine wirksame Leitfigur muss über eine intellektuelle Leistung
verfügen. Ich habe S. V. zwar nie persönlich getroffen,
kenne aber die Berichterstattung der «Rundschau» und
die Einschätzung von anderen Fachkräften aus der Prävention.
Demnach ist er vor allem ein Macho, findet schnelle Autos und Frauen
toll, ist stolz auf seine Muckis. Er verfügt aber über
kein wirkliches ideologisches Argumentarium. Im besten Fall ist
er ein Verführer. Ihn als Leitfigur zu bezeichnen, kommt einer
Ikonisierung gleich. Man schreibt ihm dadurch mehr Macht und Wirksamkeit
zu, als er in der Realität hat.
Der ehemalige Kriegsreporter Kurt Pelda, der die Berichterstattung
über die Islamistenszene dominiert, hat die Jugendgruppe als
«losen Zusammenschluss von radikalen Salafisten» beschrieben.
Sie würden sich an einer buchstabengetreuen Koranauslegung
orientieren, Hochwasserhosen tragen und sich den Bart wachsen lassen.
Deckt sich diese Beschreibung mit Ihren Erfahrungen?
Pelda zeichnet das Bild einer Gruppierung, die genau weiss, was
sie will. Er sprach auch schon von einer IS-Zelle und insinuiert
damit strukturellen und programmatischen Extremismus. Auf diejenigen,
die ich kennen gelernt habe, trifft dies alles nicht zu. Ein Gruppenmitglied,
mit dem ich bis vor kurzem in Kontakt stand, hatte zum Beispiel
– obwohl er der Sohn eines früheren Imams der An’Nur-Moschee
ist – kein vertieftes Wissen vom Islam oder dem Salafismus.
Das ist bei den meisten so. Darum würde ich hier von symptomatischem
Salafismus sprechen, aber nicht von einem programmatischen.
Wo genau liegt der Unterschied?
Ein programmatischer Extremist hat ein ideologisches Gedankengebäude
verinnerlicht und bewegt sich nur noch in entsprechenden Kreisen.
Argumente prallen an einer solchen Person ab. Bei symptomatischen
Extremisten ist das anders: Sie verhalten sich so, als ob sie zum
Beispiel Salafisten wären. Sie glauben auch, dass sie es sind,
weil alle rundherum entsprechend auf sie reagieren. Das Auslösen
von Angst ist ein Teil davon. Diese Phänomene sind auch aus
dem Rechtsextremismus bekannt. Dort sind es die Jungs, die mit der
Bomberjacke Eindruck schinden wollen und damit schon zufrieden sind.
Solange jemand symptomatisch extremistisch ist, kann man meistens
noch mit präventiven Massnahmen arbeiten.
Von aussen nimmt man bei einer solchen Person aber vermutlich nur
die salafistische Fassade wahr. Wie erreicht man den Menschen dahinter?
Das ist sehr individuell. Ich gebe Ihnen ein Beispiel eines 15-jährigen
Jungen mit albanischem Hintergrund aus dem Raum Basel. Sein Vater
rief mich an, weil er in der Schule mit einer Schere auf jemanden
losgegangen war und dabei «Allahu Akbar» gerufen hatte.
Der Vater hatte grosse Angst, sein Sohn sei radikalisiert. Der Junge
habe ihm erzählt, er finde Steinigung gut, weil es die Scharia
so vorschreibe. Ich sagte dem Vater: Dein Sohn will offenbar mit
dir eine Debatte über die Todesstrafe führen. Der Vater
war erstaunt, dass ich die Radikalisierungsanzeichen nicht als rotes
Tuch, sondern als Aufforderung zum Dialog sah, und liess sich darauf
ein. Er musste sich selber ins Thema einlesen und diskutierte danach
mit seinem Sohn über die Steinigung im Islam, die Todesstrafe
in den USA und auch über unsere Rechtsnormen. Die Provokation
mit der Steinigung war für den Sohn dann schnell nicht mehr
interessant. Und statt dass es zum Bruch zwischen Vater und Sohn
kam, haben die beiden einen Weg zur Kommunikation gefunden.
In Winterthur haben aber offenbar viele Mitglieder der Jugendgruppe
das Stadium des symptomatischen Extremismus überschritten.
Laut Recherchen von Kurt Pelda waren praktisch alle Jihad-Reisenden
Teil der Jugendgruppe oder zumindest mit deren Mitgliedern befreundet.
Das heisst nicht unbedingt, dass sie alle schon programmatisch waren.
Symptomatische Extremisten können genauso gefährlich werden.
Auch der Teenager in der Bomberjacke kann Ihnen einen Faustschlag
verpassen. Aber es ist nicht dieselbe Gefahr, weil wir in solchen
Fällen viele Möglichkeiten der Prävention haben.
Pelda lässt der Symptomatik vieler Jugendlicher keinen Raum,
er differenziert zu wenig.
Sie sind also gegen Repression?
Nein, auf keinen Fall! Der Repressionsdruck ermöglicht es oft
erst, den Zugang zu den Betroffenen zu öffnen, denn sie lernen
auf diesem Weg, dass unser Staat Extremismus nicht duldet und ihn
mit demokratisch erarbeiteten Gesetzen auch sozial ächtet.
Wird ein symptomatischer Extremist jedoch gleich wie ein programmatischer
behandelt, bietet man ihm die Radikalisierung geradezu an.
Was passiert denn, wenn repressive Massnahmen gegen symptomatische
Extremisten ergriffen werden?
Wenn man jemanden, der nicht wirklich gefährlich ist, als Gefahr
bezeichnet, dann bewirkt das eine Desidentifikation. Das ist eine
Form von psychischer Gewalt. Bei der Jugendgruppe der An’Nur-Moschee
bewirkte dies, dass die Jugendlichen Angst voreinander bekamen.
Der Sohn des Imams schilderte das mir gegenüber so, als ob
jeder eine ansteckende Krankheit haben könnte, von der eine
tödliche Gefahr ausginge und über die ständig in
den Medien berichtet wird. Viele waren zu jung, um die Situation
reflektiert zu betrachten. Das war auch keine eng verbundene Gruppe,
die sich gemeinsam gegen den Druck von aussen hätte wehren
können. Deshalb ging jeder seinen Weg.
Zu welchem Zeitpunkt hat sich die Jugendgruppe aufgelöst?
Das begann, als die Berichterstattung über die An’Nur
so richtig Fahrt aufnahm. Als die Forderung aufkam, die Moschee
zu schliessen, und immer mehr über die Jugendgruppe bekannt
wurde. Zum Beispiel die Geschichte mit dem Gruppengebet auf einem
Pausenplatz, bei dem der Sohn des Imams als Vorbeter fungierte.
Mir gegenüber hat er gesagt, sie hätten dort gebetet,
weil sie beim Fussballspielen die Zeit vergessen und es nicht mehr
rechtzeitig in die Moschee geschafft hätten. Er hat das selber
als Blödsinn bezeichnet, als eine Art von «Seich machen».
Sie hätten auch nicht damit gerechnet, dass sie dabei beobachtet
werden, denn der Pausenplatz war ja leer. Ich glaube seiner Darstellung,
denn vor anderen zu beten, wäre eine Demonstration gewesen,
und dafür ist er viel zu unsicher, eben nicht programmatisch.
Wie haben Sie eigentlich den Sohn des Imams kennen gelernt?
Er hat mich kontaktiert und bat mich um Hilfe, weil sich einer seiner
Kollegen in der U-Haft radikalisiert habe.
Selber ist er also kein Radikaler?
Ich kann ihn nur aufgrund von dem beurteilen, wie er sich gibt und
was er über seine Mikromimik verrät. Bei ihm konnte ich
keine programmatischen Ansätze einer Radikalisierung finden.
Er zeigte kein dominanzorientiertes Denken und war dialogoffen.
Er ist sicher intelligent und sehr differenziert. Auf der anderen
Seite ist er – wie viele andere Jugendliche auch – ein
Lümmel, der auch mal unüberlegt handelt.
Sie zeichnen das Bild einer Gruppe von pubertären oder in einigen
Fällen wohl spätpubertären Menschen, die gerne Salafisten
spielen, aber eigentlich wahnsinnig unsicher sind. Wissen Sie, wie
sich die Mitglieder der Jugendgruppe selber sehen?
Diejenigen, die ich kenne, haben noch kein abgeschlossenes Selbstbild.
Viele meinen, Muslime seien grundsätzlich in der Opferposition.
Oft haben sie einen Namen, der auf ihre Religion schliessen lässt,
dann ist vielleicht jemand in der Verwandtschaft diskriminiert worden
oder sie haben von solchen Vorfällen aus den Medien erfahren.
Dazu kommt in konservativen Kreisen die Forderung, religiös
zu werden. Viele haben einen Migrationshintergrund. Sie haben Mühe,
ihre eigene Identität zu verstehen, weil sie aus so vielen
Teilen besteht. Einige sind mit der Verarbeitung von Fluchtgeschichten
beschäftigt oder haben Dramen innerhalb der Familie erlebt.
Welche Faktoren haben die Gruppe von aussen beeinflusst, abgesehen
von der Verurteilung in den Medien?
Eltern, die lokale Politik, die Gesellschaft und ihre Reaktion auf
den Islam, Kriege im Nahen Osten, die als ungerecht empfunden werden.
Natürlich haben auch religiöse Mittler einen Einfluss,
sei es nun im Internet oder in Gestalt eines lokalen Imams, sie
sind aber nicht der wichtigste Faktor. Das Problem ist folgendes:
Je verunsicherter die Jugendlichen sind, desto mehr suchen sie Halt
in einer Struktur. In diesem Fall ist es halt der Islam.
Haben Sie auch schon mit Extremisten zu tun gehabt, die Sie als
programmatisch bezeichnen würden?
Normalerweise nehme ich solche Fälle nicht an, weil diese Menschen
für die Prävention nicht mehr zugänglich sind. Beim
ehemaligen Thaiboxer V. G. aus Süddeutschland habe ich eine
Ausnahme gemacht, weil seine zwei noch sehr kleinen Kinder später
sicher gefragt hätten, wieso niemand versucht hat, ihn aus
Syrien zurückzuholen. V. G. gehörte allerdings nicht zur
Winterthurer Jugendgruppe und hat vermutlich auch niemanden radikalisiert.
Ich habe mich über einen längeren Zeitraum mit ihm unterhalten,
und er sagte mir, er habe niemandem von seinen Reiseplänen
erzählt, weil dies viel zu riskant gewesen wäre. Er war
absolut überzeugt davon, dass es sich lohnen würde, fürs
Kalifat zu sterben. Ich wollte versuchen, seinen Bezug zur Realität
wieder zu vergrössern, indem ich für ihn und seine Familie
eine Videokonferenz organisierte. Alle waren einverstanden. Einen
Tag vor dem verabredeten Termin wurde V. G. jedoch vermutlich in
Syrien erschossen.
Wie sind Sie überhaupt zu V. G. durchgedrungen, wenn er doch
absolut ideologisiert war?
Auf die ideologischen Inhalte einzugehen, bringt nichts, das mache
ich nie. Bei ihm fand ich den Zugang übers Thema Schmerzen.
Ich habe ihn gefragt: Wie machst du das eigentlich, wenn dich beim
Thaiboxen ein Gegner trifft und du leidest? Das hat ihn natürlich
interessiert. Ich versuche immer, die Originalität und die
Integrität in der Person zu sehen. Dafür muss ich mich
von allen Feindbildern lösen, darf ihn also nicht nur als Terroristen
sehen. Ich spreche hier aber natürlich aus dem Blickwinkel
der Prävention. Ein Polizist muss das anders machen. Aus einer
kombativen Perspektive sind Feindbilder überlebenswichtig.
Interview: Manuel Frick
«Kurt Pelda zeichnet das Bild einer Gruppierung, die genau
weiss, was sie will.»
«Er bat mich um Hilfe, weil sich einer seiner Kollegen in
der U-Haft radikalisiert habe.»
SAMUEL ALTHOF
Der 1955 geborene Basler ist seit über 20 Jahren als selbstständiger
Extremismusexperte tätig. Seine Fachstelle Extremismusund Gewaltprävention
wird von einer Stiftung finanziert und beschäftigt sich sowohl
mit Linkswie auch mit Rechtsextremismus, insbesondere im Internet.
Seit einigen Jahren arbeitet Althof auch mit Muslimen, die radikale
Tendenzen zeigen. maf
|