primenews.ch
29. März 2023 04:17
«Die absolute Sicherheit wird es nie geben»
Basler Gewalt-Experte Samuel Althof relativiert den Anstieg
der Kriminalität am Rheinknie und warnt vor «Angstmacherei».
Interview:
Anja Sciarra
Wie fast jedes Jahr nach
Publikation der Kriminalitätsstatistik dominieren erschreckende
Schlagzeilen die hiesige Berichterstattung: Basel-Stadt ist einmal
mehr der gewalttätigste Kanton in der Schweiz, wenn man die
angezeigten Delikte pro 1'000 Einwohner anschaut.
Um 18 Prozent haben die
polizeilich rapportierten Straftaten im Bereich der Schweren Körperverletzung
beispielsweise zugenommen, nachdem sie vergangenes Jahr noch rückläufig
waren. Vergewaltigungen haben sich mit 41 Fällen fast verdoppelt
(2021: 23). Basel nimmt also erneut den unrühmlichen ersten
Platz ein, während auch schweizweit die Kriminalität gestiegen
ist (zur Statistik).
Es gibt sogar Menschen,
die Angst bekunden, abends oder auch tagsüber in der Stadt
auf die Strasse zu gehen. Die Basler Staatsanwaltschaft hält
es derweil für verfrüht, ob der gestiegenen Zahlen Alarm
zu schlagen, wie es an der Pressekonferenz von gestern Dienstag
hiess. Ob die neuste Statistik einen Trend darstellt, werde sich
erst in den kommenden Jahren noch zeigen.
Derweil wartet die Basler
SVP bereits mit Forderungen auf, und adressiert ein «letztes
Ultimatum» an den Gesamt-Regierungsrat sowie Sicherheitsdirektorin
Stephanie Eymann (LDP) insbesondere. Bis Ende Juli müsse sich
die Sicherheitslage «massiv verbessern» (Prime News
berichtete).
Samuel Althof, Leiter
der Basler Fachstelle für Extremismus- und Gewaltprävention,
relativiert hingegen. Die Zahlen müssten jeweils über
längere Zeiträume analysiert werden, ansonsten würden
sie aufgrund der jährlichen Schwankungen jeweils erschreckend
hoch ausfallen, meint er. Ausserdem warnt er im Interview mit Prime
News vor «Angstmacherei», und davor, die Statistik politisch
zu instrumentalisieren.
Herr Althof, Gewaltdelikte lagen 2022 schweizweit so hoch wie noch
nie, und in Basel sind sie um 18 Prozent gestiegen. Warum ist das
so?
Samuel Althof: Eine genaue
Theorie habe ich nicht. So viel kann ich aber sagen: Gewalt hat
immer etwas mit den sozialen Zuständen zu tun, und damit, wie
es uns in der Gesellschaft und untereinander geht. Je angespannter
die Verhältnisse, desto höher die Wahrscheinlichkeit,
dass es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen kommt. Aber Gewalt
ist primär immer auch ein Faktor der einzelnen Person, welche
sie ausübt. Es sind also ganz viele verschiedene Zusammenhänge,
die zur Wirkung kommen im kriminellen Sinn. Kurzum: Es gibt schlicht
keine einfache Erklärung oder einen Faktor dafür.
Die Problematik wird aber nicht selten auf ein paar wenige Faktoren
heruntergebrochen.
Das stimmt. Wir haben
zum Beispiel den sogenannten Kriminaltourismus, bei dem Bandenstrukturen
länderübergreifend zur Wirkung kommen. Das sieht bei uns
auf der Statistik dann so aus, als bestehe eine erhöhte Kriminalität
von Ausländern, die hier wohnhaft sind.
Das ist also nicht so?
Ich würde da mit
sehr grossem Vorbehalt vorgehen und vertieft anschauen, anstatt
zu sagen, es sei eindeutig so. Was man aufgrund der Ermittlungsgrundlagen
hingegen klar sagen kann, ist, dass Gewalt aus dem Ausland importiert
wird und hier stattfindet.
Solche Statistiken von Basel als kriminellste Stadt der Schweiz
lösen auch Ängste aus. Wie gross ist denn der Anlass zur
Beunruhigung für die Bevölkerung?
Auf der Strasse in der
Stadt haben wir ganz normale Sicherheitsverhältnisse. Wir haben
eine Polizei, die gut funktioniert, und eine Justiz, die grundsätzlich
auch eine gute Arbeit macht. Man kann nicht sagen, dass es einen
erhöhten Grund für Angst gibt.
Aber die Gewalt und Kriminalität haben ja zugenommen.
Die Statistik zeigt,
dass vermehrt Anzeigen eingegangen sind. Der Eingang einer Strafanzeige
ist aber noch nicht der Beleg eines tatsächlichen Delikts.
Genau deshalb muss man vorsichtig mit einer solchen Statistik umgehen
und sie richtig verstehen.
Die Vergewaltigungen sind beispielsweise um 78 Prozent angestiegen.
In absoluten Zahlen von 23 auf 41 Fälle. Ist das nun so, weil
es mehr Vergewaltigungen gab, oder ist es ein Anzeichen dafür,
dass mehr Vergewaltigungen zur Anzeige gebracht wurden?
Es ist vor allem eine
Aussage über die Rechnungsart der Statistik, welche für
sich allein gesehen solche exorbitant hohen Zahlen ergibt. Aber
will man einen Anstieg tatsächlich verstehen und messen, muss
man die Daten über mehrere Jahre anschauen und sie dahingehend
beurteilen. Natürlich erschrickt man bei solch hohen Zahlen.
Darum ist es wichtig, diese sorgfältig und nicht überhastig
zu interpretieren. Würde man die Statistik über zehn Jahre
vergleichen, würden sie anders aussehen.
Das Justiz- und Sicherheitsdepartement stellte vergangenen
Sommer seine Schwerpunkte bei der Kriminalitätsbekämpfung
vor. Unter anderem sexualisierte Gewalt. Damals hiess
es, so paradox es klingt, dass es erfreulich wäre, wenn eben
mehr Sexualdelikte zur Anzeige kommen. Damit würde die
Dunkelziffer nämlich sinken. Würden Sie diese Aussage
so unterstützen?
Das möchte ich nicht
beurteilen. Aber ich denke, wenn jemandem etwas angetan wurde, ist
es auf jeden Fall wichtig, dies polizeilich abzuklären, respektive
zu einer Anzeige zu bringen. Schweigt man, partizipiert man ein
Stück weit in diesem System und somit leider mit der Täterschaft.
Die Verarbeitung der Schuld ist für beide Seiten sehr wichtig.
Und eine Aufarbeitung gelingt nur, wenn es eine klare Abklärung
und einen Schuldspruch gibt. Wir müssen über die Strafverfahren
und Ergebnisse lernen und ein Bewusstsein dafür entwickeln,
wie gefährlich solche Handlungen sich beispielsweise auch transgenerational
auswirken.
Wie meinen Sie das?
Ich habe schon Geschichten
erlebt, bei denen ein Vater stark im Drogenmilieu verwickelt war,
Waffen unter dem Bett versteckte oder Prostitution nach Hause brachte.
Seine Kinder hatten nachher riesige Probleme. Durch eine Verurteilung
des Vaters erhielten sie später aber ein Stück weit eine
Handhabung. Darum sind die Anzeigen so wichtig.
Würden Sie sich wünschen, dass solche Statistiken anders
aufgearbeitet werden?
Das fände ich sehr
nutzbringend, ja. Denn man würde sie nicht nur als Statistik
ohne Kontext verstehen, sondern sich dem Verlauf einer bestimmten
Jahreszahl annehmen und schauen, wie die Entwicklungen rauf und
runter gehen. In der Statistik sind ja auch ganz viele Delikte untergebracht,
die wir unter uns als Bagatelle bezeichnen würden. Diese geschehen
in jeder Gesellschaft. Vielmehr müssen wir uns auf jene Straftaten
fokussieren, die wirklich schwerwiegend sind, und dabei anschauen,
wie wir damit als Gesellschaft umgehen wollen oder können.
Insgesamt sind die Zahlen der Kriminalitätsstatistik
über das letzte Jahrzehnt relativ stabil geblieben. Trotzdem
scheint es immer mehr Menschen zu geben, die sich nachts oder sogar
tagsüber nicht in gewisse Stadtteile trauen. Warum entsteht
dieses Gefühl bei den Leuten, dass es immer mehr Gewalt gibt?
Das ist natürlich
eine ganz subjektive Perspektive der einzelnen Person, und davon,
wie sie sich Sicherheit vorstellt und was Sicherheit für sie
bedeutet. Es gibt keine absolute Sicherheit. Weder im objektiven
noch im subjektiven Sinn. Ich kann mich an einem Ort komplett sicher
fühlen und es kann mir trotzdem etwas passieren, oder umgekehrt.
Gleichzeitig gibt es natürlich politische Energien, die versuchen,
aus solchen Statistiken für sich Kapital zu schlagen. Und das
kommt oft aus den rechten Spektren. Es sind diese politischen Kräfte,
die auch propagieren, dass man mit erhöhten Strafmassen und
Repression die Problematiken in den Griff kriegt.
Ist das nicht so?
Nein, das ist nachweislich
eine Illusion. Denn das kriminelle Verhalten hat sehr wenig mit
dem Strafmass zu tun. Wenn eine Person eine andere umbringt, überlegt
diese nicht, wie viele Jahre sie in der Kiste landet, oder auf welche
Art und Weise das Strafmass tiefer sein könnte. Das passiert
einfach. Das Strafmass im Sinne einer Abschreckung: Da sollte man
sehr kritisch hinterfragen, was es wirklich bringt. Wenn wir politisch
Angst verbreiten, wie es in den Medien jeden Tag geschieht, kreiert
das auch neue Probleme.
Zum Beispiel?
Nehmen Sie die Junge
Tat. Da haben Sie eine Gruppe, die vollkommen disproportional aufgebauscht
ist in den Medien. Die Leute haben Angst vor ihnen! Dabei ist es
eine sehr kleine Gruppierung, vor denen man sich nicht fürchten
muss. Aber so wie sie zuweilen in den Medien dargestellt werden,
kann ich den Unmut durchaus nachvollziehen. Viele Faktoren sind
daran beteiligt, wie die subjektive Angst bei den Einzelnen entsteht.
Dies als politisches Instrument zu nutzen, bedingt sehr viel Verantwortung.
Oft ist dies aber nicht der Fall.
Die SVP Basel-Stadt hat kurz nach Publikation der Kriminalitäts-Statistik
bereits eine Medienmitteilung verschickt, in der sie diverse
Forderungen stellt.
Das ist politisch heisse
Luft für nichts.
Was kann man denn sonst machen?
Ich denke, was man machen
kann, ist vorhandene Prävention auszubauen, respektive komplett
zu nutzen. Die Basler Jugendanwaltschaft leistet da wahnsinnig viel
Gutes. Jugendlichen muss man früh einen Umgang mit der Justiz
vermitteln, der für alle gewinnbringend ist. Bei der Rehabilitierung
von straftätigen Erwachsenen ist es dasselbe. Man muss aber
wissen: Die Bekämpfung solcher Phänomene bleibt immer
schwierig, und jede Gesellschaft hat eine kriminelle Sockelproblematik,
die wir niemals loswerden. Wir müssen uns von Paradiesvorstellungen
der absoluten Sicherheit verabschieden, die es nie geben wird.
|