Extremismus-Experte über jüngsten An'Nur-Angeklagten:
«Er ist ein normaler Lümmel, kein religiöser Fanatiker»
Extremismus-Experte Samuel Althof hat mit dem jüngsten
Mitglied der An’Nur-Jugendgang gesprochen. Er war bei der
mutmasslichen Tat 17 Jahre alt. Althof erklärt, welche Gefahr
er in der Islamisten-Szene erkennt.
Quelle: St.Galler Tagblatt 23.10.2018
Andreas Maurer
Die zehn Männer der An’Nur-Moschee, die im Winterthurer
Islamismus-Prozess auftraten, präsentierten sich vor Gericht
selbstbewusst. Wortreich erklärten sie, weshalb sie Opfer einer
Medien-Verschwörung seien. Schweigsam wurden sie, wenn es um
ihre persönliche Geschichte ging.
Der einzige Angeklagte, der bei der mutmasslichen Tat minderjährig
war (17), offenbarte sich dafür dem Extremismus-Experten Samuel
Althof. Dieser hat eine Ausbildung als Psychiatriepfleger und hat
sich einen Namen gemacht als Berater von ausstiegswilligen Rechtsextremen.
Zwischen diesen und den Islamisten von Winterthur sieht er Parallelen.
Samuel
Althof, Sie haben ein langes Gespräch mit dem jüngsten
Angeklagten der An’Nur-Moschee geführt. Weshalb wendete
er sich an Sie?
Er kam eigentlich nicht wegen sich selber zu mir, sondern weil er
sich Sorgen über einen Kollegen machte. Dieser hatte sich im
Gefängnis radikalisiert. Er fragte mich um Rat, wie er ihm
helfen könne. Wir führten ein langes Gespräch, das
sich vor allem um die Ereignisse in der An’Nur-Moschee drehte.
Welchen Eindruck machte er auf Sie?
Er ist sehr feinfühlig und hat eine intellektuelle Abstraktionsfähigkeit.
Er versucht, in seinem Leben etwas zu erreichen. Deshalb hat er
im Gefängnis die Matura absolviert. Er wuchs in einem schwierig
durchschaubaren Spannungsverhältnis zu seinen Eltern auf. Der
Vater stammte aus Libyen und die Mutter, wenn ich mich recht entsinne,
aus der Schweiz. Die Eltern lebten getrennt, er lebte bei der Mutter.
Der Krieg in Syrien beschäftigte und verwirrte ihn. Er wollte
seinem Leben in der Schweiz einen Sinn geben, indem er religiöse
Gesetze streng befolgt. Das ist ein typisches Muster vieler religiöser
Jugendlicher. Sie suchen nach Orientierung in einer schwierigen
Phase der Adoleszenz. Der junge Mann hatte kein vertieftes Wissen
über den Islam und dessen Geschichte. Er ist ein normaler Lümmel,
kein religiöser Fanatiker.
In dieser Szene ist es aber offenbar normal, dass man Videos von
Hinrichtungen und IS-Propaganda austauscht.
Die jungen Männer haben Versatzstücke der IS-Ideologie
verwendet, ohne diese inhaltlich tatsächlich zu verstehen.
Das gilt auch für deren rechtliche Wirkung. Mit solchen Bildern
wollten sie einander zeigen, wie cool sie sind. Es ist ein Imponiergehabe
wie dies auch bei symptomatisch Rechtsextremen vorkommt, die mit
ihren Bomberjacken vor allem ihrem Gegenüber Angst machen wollen
und über diese Wirkung einen pseudo Selbstwert generieren.
Aber auch dieses Imponiergehabe kann gefährlich enden.
Ja das ist so, aber man muss dennoch unterscheiden zwischen einer
punktuellen Gefahr, wie hier, und einer strukturellen. Im aktuellen
Fall ist keine Struktur vorhanden, mit der eine kämpferische
Perspektive hätte entwickelt werden können. Es gibt kein
terroristisches Programm. Jene, die nach Syrien gezogen sind, wollten
wirklich kämpfen. Die Daheimgebliebenen aber nicht. Sie haben
keine politischen Ziele und üben Gewalt nicht aus politischen
Gründen aus. Sie haben keine Ahnung, wie man mit Sprengstoff
und anderen Waffen umgehen würde. Wenn im Fall von symptomatischem
Extremismus keine Prävention betrieben wird, kann in einem
derartigen Umfeld programmatischer Extremismus entstehen. Das ist
bei allen jungen Extremisten so. Man muss ihnen sehr schnell und
deutlich die Grenzen aufzeigen, ihnen aber gleichzeitig die Hand
zum Dialog anbieten.
Weshalb geriet die Situation in der An’Nur-Moschee aus Ihrer
Sicht ausser Kontrolle?
In der Moschee gab es eine Jugend-Peer-Group. Das ist in einer Moschee
sehr selten. Normalerweise gibt es keinen starken Zusammenhalt zwischen
den einzelnen jugendlichen Gotteshausbesuchern. Sie kommen in die
Moschee und gehen sehr schnell wieder. Ein soziales Gemeindeleben
wie in einer christlichen Kirche ist dort äusserst selten.
In Winterthur aber kamen sie zusammen, um zu plaudern und Fussball
zu spielen, typische Bubengeschichten. Doch dann inszenierte sich
der Schwächste der Gruppe plötzlich als der Stärkste
und reiste als Kämpfer nach Syrien. Von Syrien aus sagte er
den anderen, sie sollten auch zu ihm ins Kalifat kommen. Dort sei
alles viel besser als hier. Ein Zweiter folgt ihm und es entstand
ein Dominoeffekt, den man hätte voraus sehen können. Die
Zurückgebliebenen wurden dadurch verunsichert. Gleichzeitig
geriet die Moschee in den Fokus undifferenzierter, die Öffentlichkeit
verängstigende, Medienberichte. Es entstand das Bild einer
Terrorbande. So hat sich das Ganze disproportional hochgeschaukelt.
Es ist immer einfach, den Medien die Schuld zu geben. Fakt ist:
Die Behörden haben erst auf öffentlichen Druck hin gehandelt.
Möglicherweise wären sonst noch mehr Winterthurer in den
Dschihad, den Heiligen Krieg, gezogen.
Es kann sein, dass die Behörden zu spät gehandelt haben?
Ich kritisiere vor allem die Medien, weil viele Berichte eine im
Verhältnis nicht reale Bedrohung zeichneten und pauschal vorverurteilten,
aber keine differenzierte Sozialanalyse vorgenommen hatten, die
den Hintergrund der Vorgänge verständlich gemacht hätte.
Wenn ich selber in diesem Alter als Jugendlicher in derart negative
Schlagzeilen geraten wäre, hätte ich nicht garantieren
können, dass ich nicht auch einen Seich gemacht hätte.
Was ist nach der Eskalation aus der Peergroup geworden?
Die Gruppe zersplitterte. Die meisten haben sich nicht mehr gesehen.
Der Mann, den ich beriet, verlor seine Orientierung. Meine Arbeit
bestand darin, ihn im Gespräch so zu stützen, dass seine
Strukturen nicht zusammenbrachen und er nicht suizidal wurde. Wie
es ihm heute geht, weiss ich nicht. Er hat den Kontakt zu mir abgebrochen.
Er sprach von Flucht. Es dauert in der Regel mehrere Jahre, bis
jemand seine extremistische Vergangenheit überwunden hat.
|