«Wer in den Jihad will, weiss sich zu verstellen»
Extremismusexperte Samuel Althof arbeitet mit Fanatikern –
egal, ob mit linker, rechter oder religiöser Gesinnung
Quelle: Basler
Zeitung. 05. August 2017
Nina Jecker
BaZ: Herr Althof, nach den Krawallen in Hamburg wurden auch Schweizer
verhaftet. Hat die Schweiz ein Problem mit Linksextremen?
Samuel Althof: Das zu sagen wäre übertrieben. Die Szene
ist gerade in Basel, aber auch im Rest der Schweiz überschaubar.
Der Revolutionäre Aufbau beispielsweise hat bei den Jungen
grosse Rekrutierungsprobleme. Linksextreme verfügen über
ein starres Programm, strikte Regeln und eine strenge Hierarchie.
Um Nachwuchs anzulocken, der eben gerade mit Regeln brechen will,
ist dies keine gute Strategie. Unterschätzen darf man die Linksextremen
aber keineswegs. Unter ihnen gibt es sehr gewaltbereite und gefährliche
Personen.
Sie meinen, weil sie Steine gegen Polizeiautos werfen?
Das
geht viel weiter. Ich arbeitete mit einem jungen Mann, der sich
als Linksextremer für die Polizeischule beworben hat. Er war
schon sehr weit im Bewerbungsprozess, als ich eingeschritten bin.
Es stellte sich in Gesprächen heraus, dass der Mann plante,
als Polizist bei einer linksextremen Demonstration mitzumachen,
dann plötzlich die Seiten zu wechseln und möglichst viele
Polizisten zu töten.
Linksextreme nehmen also tatsächlich viel Mühe auf sich,
den Staat zu infiltrieren und zu schädigen?
Das kann durchaus so sein. Viele wachsen aber irgendwann aus dem
Ganzen heraus, werden erwachsen und vernünftiger. Andere hingegen
haben die Programmatik derart verinnerlicht, dass sie ihr Leben
danach ausrichten, den Staat, die Polizei und andere Einrichtungen
zu zerstören.
Was ist aus dem jungen Polizeiaspiranten geworden?
Er ist erwachsen geworden. Die Polizeischule wie auch die Revolution
sind kein Thema mehr. Heute ist er Vater einer Familie und hat gerade
sein Studium abgeschlossen.
Sie haben die Rechtsextremen angesprochen. Was ist aus denen geworden?
Ausser mit vereinzelten Konzerten fallen sie kaum noch auf.
Die Rechtsextremen sind heute politischer, einige haben sich der
Partei National orientierter Schweizer oder dem rechten Flügel
der SVP angeschlossen. Anders als die Linken wollen die Rechten
von der Gesellschaft akzeptiert werden und mitgestalten. Dazu kommen
jene, bei denen der Rechtsextremismus weniger Gesinnung als Lösung
für persönliche Probleme ist. Sie sind an Neonazi-Konzerten
und ähnlichen Orten anzutreffen. Die Szene ist in der Schweiz
auf niedrigem Niveau stabil.
Inwiefern haben Sie denn noch mit Neonazis zu tun?
Sowohl bei den Linken als auch den Rechten gibt es Leute, die aussteigen
möchten, aber nicht wissen, wie. Ich habe zum Beispiel Kontakt
zu einem Rechtsextremen, der Angst hatte, im Fall des Ausstiegs
aus der Szene heraus bedroht zu werden. Dies, weil er für die
anderen wichtig war. Er weiss, wie man im Darknet unregistrierte
SIM-Karten für Handys besorgt. Diese braucht die Szene, um
der Überwachung durch Nachrichtendienst und Polizei zu entgehen.
Viele Junge suchen nach Antworten und sind empfänglich für
Ideologien. Aber sind die Ansichten der Links- oder Rechtsextremen
heute noch populär?
Wie gesagt, bewegen sich beide Szenen auf niedrigem Niveau. Mehr
zu tun habe ich seit einigen Jahren mit jungen Menschen, die sich
dem radikalen Islamzuwenden, den Jihad verherrlichen und im Extremfall
sogar nach Syrien reisen, um zu kämpfen.
Ein bekannter Jihadist, mit dem Sie arbeiteten, war der deutsch-albanische
Kickboxer Valdet Gashi. Nach seiner Sportlerkarriere wurde er Extremist
und trainierte in Winterthur Jugendliche, die er für den IS
anwarb, um später selber nach Syrien zu reisen ...
Diesen Fall wollte ich zuerst nicht übernehmen. Die Chancen,
ihn zurückzuholen, waren von Anfang an gering. Valdet war bereits
sehr ideologisiert.
Warum versuchten Sie es trotzdem?
Ich dachte an seine zwei kleinen Töchter. Und daran, dass sie
irgendwann fragen würden, ob die Gesellschaft etwas getan hat,
um ihren Vater zurückzuholen. Also tat ich etwas. Ich setzte
mich mit Valdet in Kontakt. Unsere Chatprotokolle sind rund hundert
Seiten lang und die Gespräche via Skype dauerten viele Stunden.
Konnten Sie ihn erreichen?
Zu verabredeten Gesprächen war er immer pünktlich, inhaltlich
war es aber sehr schwer. Valdet hatte die IS-Ideologie komplett
verinnerlicht. Er sprach mit mir aber auch über sehr Persönliches.
Sein Hintergrund war ein Vater, der als Polizist im Kosovo nach
der Flucht nach Deutschland vor dem Nichts stand. Durch seine Siege
im Kampfsport gab Valdet ihm wieder einen scheinbaren Sinn und Wert.
Der Sohn musste gewinnen, um vom Vater geliebt zu werden. Diese
Situation führte bei dem jungen Mann zu einer inneren Leere,
die er irgendwann mit den Ansichten des radikalen Islam füllte.
War für ihn eine Rückkehr nach Deutschland zu seiner Frau
und den beiden Töchtern eine Möglichkeit?
Ich wollte die Familie einbeziehen, um so an ihn heranzukommen.
Ende 2015 planten wir eine telefonische Konferenzschaltung mit seinen
Eltern, der Frau und den kleinen Töchtern. Wenn etwas seine
Rückkehr bewirken könnte, so dachte ich, dann dies.
Wie lief das Telefonat?
Es kam leider nie dazu. Einen Tag, bevor das Gespräch hätte
stattfinden sollen, wurde Valdet in Syrien getötet. Sein Vater
hat noch am selben Tag sämtliche Bilder seines Sohnes von seiner
Facebook-Seite gelöscht.
Ein zerrüttetes Elternhaus, ein fordernder Vater. Sind denn
immer die Eltern schuld?
Von Schuld rede ich nicht, sondern von Ursachen und deren Wirkungen.
Ich kann aber sagen, dass kaum jemand mit einem guten Selbstvertrauen
und einem stabilen Umfeld empfänglich für extremistische
Ideologien ist. Es sind Menschen mit einer inneren Leere und grossen,
nicht aufgearbeiteten Brüchen. Menschen, die die Spannung offener
Fragen und Widersprüche nicht ertragen können. Welche
Rolle dabei das Elternhaus spielen kann, zeigt auch der Fall einer
jungen Frau aus Basel.
Erzählen Sie mehr.
Das Mädchen wuchs unter schlimmen Umständen auf. Der albanischstämmige
Vater war kokainabhängig und gewalttätig. Im Alter von
drei Jahren sah das Kind, wie er versuchte, die Mutter mit dem Duschschlauch
zu erwürgen. Als das Mädchen in die Pubertät kam,
wandte es sich dem Islam zu und begann Kopftuch zu tragen. Dieses
diente ihr als Schutz und als Möglichkeit, nicht als junge
Frau wahrgenommen zu werden. Davor fürchtete sie sich, weil
sie erlebt hatte, was mit Frauen passieren kann.
Wie reagierten die Eltern?
Völlig ablehnend, sie wollten ihr das Kopftuch wegnehmen –
mit jeder Art von psychischer und physischer Gewalt. Es war in dieser
Zeit, als ich in der König-Faysal-Moschee an der Friedensgasse
auf sie aufmerksam wurde.
Was taten Sie?
Ich suchte mit allen das Gespräch und erklärte den Eltern,
die mittlerweile getrennt lebten, welche Bedeutung das Kopftuch
für das Mädchen hatte. Schliesslich gelang eine Annäherung
zwischen Vater und Tochter. So, dass sie, wenn sie bei ihm zu Hause
war, immer häufiger auf das Kopftuch verzichtete und sich schliesslich
sogar schminkte.
Also ein Happy End?
Bis jetzt nicht. Plötzlich tauchte von irgendwoher ein strenggläubiger,
pakistanischer Mann auf. Mit diesem begann die Jugendliche eine
Beziehung und ist ihm vor zwei Monaten nach Deutschland gefolgt.
Sie floh aus ihrem mit Spannungen geladenen Zuhause. Seither gibt
es keinen Kontakt mehr zu ihr. Doch die Türe ihres Vaters ist
offen für sie, falls sie zurückkehren möchte.
Eine junge, radikalisierte Frau in der König-Faysal-Moschee.
Ist die Basler Moschee eine Jihadisten-Brutstätte?
Keineswegs. Der Unterschied zu anderen Moscheen in Basel ist jedoch,
dass es eine Stiftung ist und kein Verein. Das heisst, an die Friedensgasse
kann jeder zum Beten kommen, egal, ob liberal oder orthodox. Das
führt dazu, dass halt auch radikalere Gesinnungen Einzug halten
können.
Das klingt gefährlich.
Es gibt keinen Anlass zu begründeter Angst. Ich arbeite seit
fünf Jahren in der Moschee und deren Umfeld, weil es damals
Probleme mit der Nachbarschaft gab. Die Betreiber sind sehr aufmerksam
und haben die Situation gut im Griff. Als neulich zwei junge Männer
Schwierigkeiten machten, informierte mich der Geschäftsführer
der Moschee. Schliesslich wurden die Problemgäste von der Polizei
herausgeholt.
Ein Kickboxer stirbt in Syrien, eine Jugendliche verschwindet spurlos.
Gibt es auch positive Geschichten?
Durchaus. Aber gerade beim radikalen Islam ist es sehr schwer, jemanden
zurückzuholen. Die jungen Menschen verinnerlichen die IS-Ideologie
völlig und driften mehr und mehr in eine Parallelwelt ab. Man
muss sich vorstellen, dass einige am Ende dazu bereit sind, ihr
Leben zu opfern.
Das ist schon eine andere Stufe als Linksextreme, die Steine schmeissen
...
Auf jeden Fall. Der Bruch mit der bisherigen Lebensrealität
erzeugt immense Spannungen, die für einen Teenager kaum auszuhalten
sind. Ausserdem betreibt der IS nicht nur Propaganda mit der Diskriminierung
von Muslimen, sie existiert in gewissen Bereichen ja tatsächlich.
Je stärker sich die Jugendlichen also radikalisieren, desto
grösser wird der Widerstand von Familie und Gesellschaft. Das
treibt sie weiter in die Ideologie und die vermeintliche neue Familie
oder das Kalifat. Bis zu dem Punkt, an dem der Suizid im Namen der
Religion plötzlich als beste Lösung erscheint.
Sind diese jungen Islamisten eine Gefahr für die Schweiz?
Ich glaube, dass die Terrorangst hierzulande nach den Anschlägen
im Ausland zwar nicht unberechtigt, aber doch stark übertrieben
ist. Meldungen über radikale Muslime werden rasch zu angeblichen
Terrormeldungen aufgebauscht. Aber ich kann natürlich nicht
sagen, dass es in der Schweiz nie einen Anschlag geben wird. Man
darf daher auch bei uns die mögliche Gefahr eines hausgemachten
Terrorismus nicht ignorieren.
Tut
der Staat hier das Richtige?
Aus meiner Sicht nicht immer. Beispielsweise die Software RA-PROF,
die radikalisierte Schüler mit Hilfe eines Fragebogens überführen
soll. Das bringt nichts. Die wissen doch genau, was sie antworten
müssen, um nicht aufzufallen*. Wer in den Jihad will, weiss
sich zu verstellen. In Israel beispielsweise wird jeder Fluggast
am Flughafen von Agenten befragt. Die achten genau auf die Mikromimik,
also die kleinsten, unwillkürlichen Muskelbewegungen im Gesicht.
Nur so, direkt und persönlich, kann man auffällige Personen
herausfiltern. Das gilt auch für Jugendliche in einem Radikalisierungsprozess.
Der
Kanton Basel-Stadt hat letztes Jahr immerhin die Taskforce Radikalisierung
ins Leben gerufen.
Ganz ehrlich halte ich davon nicht viel. Ich frage mich: Wie soll
eine Taskforce der Verwaltung ohne jegliches zusätzliches Personal
das nötige Know-how mitbringen? Ich habe ausserdem ausser den
gegebenen Interviews noch nicht mitbekommen, dass die überhaupt
etwas getan hätten.
Sie hingegen scheinen immer aktiv. Auch heute Nachmittag müssen
Sie noch zu einem Termin.
Wer hat gerufen?
Ein
junger Mann aus der umstrittenen und mittlerweile geschlossenen
An-Nur-Moschee in Winterthur. Er gehörte dort zu einer Clique,
die sich regelmässig in der Moschee traf. Wegen angeblicher
Todesdrohungen hat er gerade mehrere Monate in Untersuchungshaft
gesessen. Einige seiner Freunde sind letztes Jahr als IS-Kämpfer
nach Syrien gereist.
Können
Sie ihm helfen?
Vielleicht, ich hoffe es, doch solche Geschichten brauchen immer
sehr viel Zeit. Aber solange ich die Möglichkeit sehe, Menschen
zu helfen, wieder aufs Gleis zu kommen und die nötige Kraft
dazu habe, werde ich wohl mit meiner Arbeit fortfahren. (Basler
Zeitung)
*Zu
Ra-Prof (Radicalisation Profiling):
Das Vorgehen von Ra-Prof ist hier leider nicht ganz präzise
dargestellt. Mit Ra-Prof wir eine indirekte Befragung der Betroffenen
vorgenommen. Beispiel: Der/die LehrerIn, Polizist etc. wird mit
dem Ra-Prof Fragebogen über das was er bei einer sich möglicherweise
radikalisierenden Person sieht befragt.
Dieses Vorgehen kann in meinen Augen unmöglich zu einem verlässlichen
und objektiven Resultat führen, denn das was der Lehrer sieht
und beschreibt steht unausweichlich im Kontext seiner subjektiv,
politisch oder religiösen Meinung. Nicht zu unterschätzen
bei der Wahrnehmung des Lehrers ist die Wirkung politischer und
sozialer Frames. Diese fliessen unbewusst in die Beurteilung ein,
gewollt oder auch nicht gewollt.
Dies sind einige
der Gründe warum ich Ra-Prof für ein ungeeignetes aber
auch viel zu teures Assesment Tool halte.
Link zu Ra-Prof
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