«Radikalisierung erfolgt schleichend»
Muslime · Ein Verbot der umstrittenen Koran-Verteiler ist
kontraproduktiv, sagt Extremismus-Experte Samuel Althof (60). Dafür
sollen die Moscheevereine mehr in die Jugendarbeit investieren.
Interview Alexander
von Däniken
alexander.vondaeniken@luzernerzeitung.ch
Quelle: Neue Luzerner Zeitung; 04.08.2016
Bärtige
Männer verteilen in immer mehr Städten gratis den Koran
und sprechen Passanten an: Die in Deutschland gegründete «Lies!»-Bewegung
ist mittlerweile auch in der Schweiz aktiv – alleine in Luzern
wurden bisher 19 Standaktionen durchgeführt. Sie wird mit Argwohn
betrachtet, weil junge Muslime nach einem Kontakt mit der Bewegung
in den Dschihad gezogen sind. Das Forum für einen fortschrittlichen
Islam fordert deshalb ein Verbot der Standaktionen (Ausgabe vom
28. Juli).
Welche Auswirkungen
hätte ein Verbot? Der Extremismus-Experte Samuel Althof befasst
sich unter anderem mit Jugendlichen, die sich radikalisieren (siehe
Hinweis). Sein prominentester Fall war Valdet Gashi: Der Thaibox-Weltmeister
aus Winterthur radikalisierte sich und schloss sich 2014 dem IS
an. Althof hatte mit dem 28-Jährigen regelmässig Kontakt,
konnte aber dessen Reise nach Syrien nicht verhindern. Gashi gilt
mittlerweile als tot.
Samuel Althof,
was halten Sie von der Forderung, die «Lies!»-Stände
zu verbieten?
Samuel Althof*:
Das ist rechtlich kaum durchsetzbar. Ausserdem wäre ein Verbot
kontraproduktiv. Was verboten ist, kann erst recht anziehend wirken.
Die Bewegung würde dann – wie bereits geschehen –
wieder auf Sandwichplakate setzen: Die Männer hängen sich
ein Plakat über die Schultern, tragen ein paar Koran-Exemplare
unter dem Arm und brauchen dafür nicht einmal eine Bewilligung.
Dafür fehlt dann die Kontrolle der Bewilligungsbehörden
ganz.
Wer gehört
dieser Bewegung an?
Althof: Es
sind radikale Muslime dabei, aber auch gemässigte. Neben Konvertiten
auch als Muslim Geborene. Die Bewegung ist sehr heterogen.
Wie gefährlich
sind denn die Koran-Stände?
Althof: Grundsätzlich
sind sie nicht gefährlich. Nur vom Koran alleine wird man nicht
radikalisiert. Gefährlich wird es, wenn mehrere Elemente gleichzeitig
dazukommen: wirtschaftliche und soziale Ausgrenzung, Demütigungen,
Kleinkriminalität, Isolation, Gewalt, eine apokalyptische Weltsicht
und schliesslich die Selbst- oder Fremdindoktrination im Internet
oder durch einen Hassprediger.
Und die «Radikalisierung
über Nacht», wie sie immer wieder kolportiert wird?
Althof: Das
ist ein Märchen. Radikalisierung ist in den allermeisten Fällen
ein langer, schleichender Prozess. Das war auch bei Valdet Gashi
zu beobachten. Seine Eltern waren aus dem Kosovo nach Deutschland
geflüchtet. Dabei verlor der Vater – in der Heimat ein
geachteter Polizist – seine Ehre und seinen Stolz. Als Valdet
mit dem Thaiboxen anfing, gab das seinem Vater Halt: Er unterstützte
seinen Sohn, feuerte ihn an. Daraus entstand eine konditionierte
Vater-Sohn-Beziehung, wobei sich der Vater zunehmend über die
Erfolge seines Sohnes definierte, dieser sich dabei aber immer mehr
selbst entleerte, da er dadurch keine eigenen Interessen entwickeln
konnte. Die Leere begann Valdet sich dann mit dem Islam zu füllen.
Dieser gab ihm einen scheinbar neuen Sinn, Heimat und Halt.
Warum konnte
man ihn nicht von der Radikalisierung abhalten?
Althof: Das
wäre ein sehr komplexer Vorgang gewesen. Valdet schloss sich
der «Lies!»-Bewegung an und ging darin richtig auf.
Sie wurde zu seiner Ersatzfamilie, die ihn scheinbar so akzeptierte,
wie er war. In Wirklichkeit war es jedoch nur ein Austausch der
konditionierten Verhältnisse, die er schon zuvor leben musste.
Diese scheinbare Akzeptanz war für ihn existenziell. Als er
erstmals seine Absicht äusserte, für den IS in den Krieg
zu ziehen, war es bereits zu spät. Als ich ihn darauf angesprochen
hatte, dass er damit seine beiden Töchter ihrem Schicksal überlasse,
antwortete er: «Es ist Allahs Vorsehung.» Mit Prävention
gegen Radikalisierung kann nicht früh genug begonnen werden!
Zurück
zur «Lies!»-Bewegung. Würden denn verstärkte
Kontrollen der Behörden etwas bringen, um dieses eine Element
der Radikalisierung in den Griff zu bekommen?
Althof: Die
Bewilligungsbehörden machen bereits das, was sie müssen:
Sie wägen ab, ob etwas gegen unser Grundrecht verstösst,
auf öffentlichem Grund für eine Religion zu werben. Die
Polizeikorps und der Nachrichtendienst machen ebenfalls ihren Job:
Sie identifizieren mögliche Gefährder. Dabei sind ihnen
aber strikte Grenzen gesetzt.
Welche?
Althof: Es
ist in der Schweiz zum Beispiel verboten, Moscheen zu überwachen.
Dafür fehlt die rechtliche Grundlage. Ausserdem können
soziale Netzwerke zwar auf radikale Aussagen durchforstet werden.
Das heisst aber noch lange nicht, dass die Verfasser auch radikal
sind und die klare Absicht haben, gegen ein Gesetz zu verstossen.
Manchmal steckt hinter radikalen oder brutalen Aussagen ein Jugendlicher,
der auffallen möchte, die Grenzen auslotet oder sich damit
brüsten will.
Wenn ein Verbot
nichts bringt und schärfere Kontrollen praktisch nicht möglich
sind, bleiben die Moscheevereine. Welche Rolle haben diese Gemeinschaften,
die für die Moscheen in der Schweiz zuständig sind?
Althof: Eine
eminent wichtige. Vor allem in der Jugendarbeit müssten die
Verbände noch viel mehr machen. In unserer christlich geprägten
Gesellschaft haben wir Pfadi, Jungwacht oder Blauring. So etwas
braucht es auch im Schweizer Islam. Aber nicht im Sinne von: Wir
stellen einen Töggelikasten hin, dann gibt es weniger Terroristen.
Sondern: Kümmern wir uns um unsere Jugendlichen und geben ihnen
eine sinnvolle Beschäftigung. Jugendliche müssen eine
Heimat haben. Dies ist vor allem dann wichtig, wenn sie im Elternhaus
keine finden.
Viele Moscheevereine
klagen aber über Geldnot. Oft sind auch die personellen Ressourcen
begrenzt.
Althof: Ich
weiss. Ich kenne darum auch die Diskussionen um eine öffentlich-rechtliche
Anerkennung der muslimischen Gemeinschaften gut. Dieser Schritt
ist bei der jetzigen Situation aber unrealistisch. Ich kann mir
jedoch Vereinbarungen zwischen der öffentlichen Hand und Moscheevereinen
vorstellen: Für einen staatlichen Beitrag, nach einer vielleicht
gemeinsam erarbeiteten Projekteingabe, stellen die Vereine die Infrastruktur
und das Personal für die Jugendarbeit zur Verfügung.
Warum ist die
Anerkennung derzeit ein Wunschdenken?
Althof: Weil
eine sachliche Annäherung verhindert wird durch polarisierte,
oft populistische, verkürzte und vergiftete Debatten. Es gibt
nicht nur gemässigte Muslime, sondern auch strengreligiöse.
Diese fühlen sich auch durch Medienberichte zunehmend in die
Ecke gedrängt und missverstanden. Andererseits fühlen
sich die gemässigten Muslime von den Diskussionen ausgeschlossen,
unsere Gesellschaft ist in Angst und fühlt sich bedroht. Es
braucht kreative und unorthodoxe Impulse in die Richtung, dass man
sich annähert, und zwar mit persönlichen Kontakten vor
Ort. Aber wie gesagt: Das Problem der Radikalisierungen zu lösen,
ist und bleibt schwierig. Jede Variante hat Nachteile, Vorteile
und Widersprüche.
Hinweis
* Samuel Althof
(Jahrgang 1955) ist Leiter der privaten Fachstelle Extremismus und
Gewaltprävention (Fexx). Als solcher beschäftigt er sich
seit über 25 Jahren überwiegend mit Links- und Rechtsextremismus,
in den letzten fünf Jahren aber auch zunehmend mit Extremismus
im Islam. Samuel Althof ist gemeinsam mit Amira Hafner-Al Jabaji
Träger des Fischhof-Preises 2016. Der mit 50 000 Franken dotierte
Preis wird von der Gesellschaft Minderheiten in der Schweiz und
der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus verliehen.
Weitere Infos:
www.fexx.ch
Balkan-Secondos
stark gefährdet
Radikalisierung
avd. Der Fall Valdet Gashi (siehe Haupttext) ist in einer gewissen
Weise typisch für die Radikalisierung in der Schweiz. Extremismus-Experte
Samuel Althof: «Es sind in der Schweiz oft jugendliche Secondos
aus dem Balkan, die sich radikalisieren. Deren Eltern sind meistens
säkulär oder gar antiislamisch eingestellt und bemühen
sich sehr stark um die Integration in unsere Gesellschaft.»
Manchmal führe das aber so weit, dass Kinder in ihren Bedürfnissen
vernachlässigt werden.
14-Jähriger
provozierte Vater
So erging es
beispielsweise einem 14-Jährigen und seiner Familie, die Althof
beraten hat. Der Vater führte ein eigenes Restaurant –
und das auch erfolgreich. Darunter litt aber die Beziehung zum Sohn.
Der Vater war für ihn, nicht nur durch seine schwierigen Arbeitszeiten,
nicht präsent. Der Sohn wollte Aufmerksamkeit um jeden Preis,
provozierte seinen Vater mit islamischen Inhalten. Als seine Schwester
dann auch noch sexuell genötigt und erpresst wurde, eskalierte
die Situation.
«Ich
konnte den Vater gerade noch abhalten, sich auf ein altes albanisches
Gesetz, den Kanun, zu berufen und den Täter eigenhändig
zu bestrafen», so Althof. Die Streitereien zum Thema Islam
wurden beendet. Die islamische Radikalität nahm beim Sohn deutlich
sichtbar ab. Trotzdem ist das Problem noch nicht gelöst.
«Nur
vom Koran alleine wird man nicht radikalisiert.»
Samuel Althof
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